Subscribe:

Blog Directory

Blogverzeichnis

Sonntag, 5. August 2012

Schule im Aufbruch-Für ein neues, humanes Schulsystem

Ich habe heute den Aufruf der Initiative "Schule im Aufbruch" zugesandt bekommen. Da diese eine demokratische Debatte über grundlegende Leitlinien unseres Schulsystems fordert, halte ich dies für den besten Zeitpunkt, ein paar grundlegende Probleme unseres Schulsystems herauszuarbeiten und mögliche Lösungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Ich möchte diesen Post also dazu nutzen, um meinen Teil zur Debatte beizutragen, was natürlich auch heißt, dass ich über Rückmeldungen meiner Leser_innen wie immer sehr erfreut wäre.

Einseitige Berufsorientierung

Unser heutiges Schulsystem setzt in großem Umfang auf Berufsorientierung. In jeder Debatte, die zum Thema Schulpolitik geführt wird, fällt mindestens einmal der Satz "Wie können wir unsere Schüler am besten auf die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes vorzubereiten?". Die Tatsache, dass diese Frage von großen Teilen der politischen Öffentlichkeit zum Hauptproblem der Bildungsdebatte erhoben wurde, ist bezeichnend für den Zustand unseres demokratischen - oder kann man es inzwischen schon plutokratisch nennen ? - Systems.

Nicht etwa freies und kritisches Denken soll gefördert werden, sondern die perfekte "Arbeitskraft" soll erstellt werden, um die Bedürfnisse des "Marktes" zu befriedigen.

Ob die derzeitige Politik geeignet ist, um diese Bedürfnisse zu befriedigen, sei angesichts des "Fachkräftemangels" dahingestellt. Es reicht für meine Analyse zunächst aus, zu erkennen, dass diese einseitige Berufsorientierung ein Primat darstellt, das sich durch das komplette Bildungssystem zieht. Ich denke, dass sich die meisten Verfehlungen des Schulsystems vor diesem Hintergrund verstehen lassen.

Selektion und Leistungsbewertung

Eine der großen Leistungen, die unser Schulsystem für den "Arbeitsmarkt" erbringt, ist die frühzeitige Selektion von Schüler_innen in Gymnasium, Real- und Hauptschule. Die Wurzeln dieses Schulsystems lassen sich in eine Zeit zurückverfolgen, als die deutsche Gesellschaft starr in Adel/Klerus, Bourgeoisie und Plebs gegliedert war. Einzelne Gesellschaftsschichten wollten sicherstellen, dass ihr Nachwuchs zum Einen nicht von der Dummheit der "niederen" Schichten verdorben wird, und ihm zum Anderen eine priviligierte Position für gesellschaftlichen Erfolg zu verschaffen.


Dass die soziale Durchlässigkeit des Bildungssystems auch heute noch zu wünschen übrig lässt, sollte vor diesem Hintergrund wenig verwunderlich sein. Laut einer aktuellen Studie des Allensbach-Institutes denken 90% der Lehrer_innen, dass die soziale Schicht der Schüler_innen einen maßgeblichen Einfluss auf die erreichten Noten hat. Dass sie mit dieser Einschätzung Recht haben, erscheint unausweichlich, wenn man einen tieferen Blick in das Notensystem wirft, wie er mir zum ersten Mal durch das Buch "Was wir unseren Kindern in der Schule antun - und wie wir das ändern können" von Sabine Czerny, welches sehr empfehlenswert ist, gewährt wurde.

Zunächst sollte man sich vor Augen führen, dass die Note "4" auch als "ausreichend" bezeichnet wird. Diese Note wird vergeben, wenn ein_e Schüler_in alle im Unterricht beigebrachten Inhalte versteht und reproduzieren kann. Bessere Noten können nur erreicht werden, wenn Anforderungen "im besonderen Maße" erfüllt werden, der/die Schüler_in also Leistungen erbringt, die nicht Teil des Unterrichtes sind. Diese Kenntnisse müssen also zwangsläufig außerhalb der Schulzeit erworben werden. Dass dieses Kindern von reichen Eltern leichter gelingt als Kindern aus "bildungsfernen Schichten" sollte selbst für den/die leidenschaftlichste_n Apologet_in des Systems schwer zu bestreiten sein. Der Bildungserfolg der Eltern wird also von Anfang an in der Schule reproduziert.

Eine weitere Perversität der Notengebung besteht darin, dass Lehrer_innen dazu angehalten werden, Klausuren zu entwerfen, die weder "zu einfach" noch "zu schwer" sind. Die Schwere einer Klausur wird dabei von Vorgesetzten anhand des Notenspiegels bewertet. Sind also in einer Klasse zu viele "einser" ist dies nicht etwa ein Beleg für die pädagogische Kompetenz der Lehrkraft, sondern wird als dessen Fehler bei der Klausurkonzeption betrachtet. Der Notenspiegel soll innerhalb einer Klasse der Annahme einer Normalverteilung der Intelligenz folgen. Dass eine solche Normalverteilung, selbst wenn sie empirisch in der Bevölkerung vorhanden sein sollte, nicht innerhalb einer kleinen, zufällig ausgewählten Klasse, reproduziert wird, sollte jedem Menschen mit einem Grundverständnis von Mathematik sofort einleuchten. Da die Annahme der Normalverteilung jedoch reproduziert werden soll, müssen Prüfungen so gestaltet werden, dass sie, zum Beispiel durch missverständliche Fragestellungen, Fehler produzieren.

Die psychologischen Schäden, die durch eine Leistungsbewertung im frühen Kindesalter verursacht werden, sind gravierend. Menschen können erst in späten Stadien ihrer Entwicklung zwischen der Bewertung ihrer Leistung und einer Bewertung ihrer Person differenzieren. Schlechte Noten, die, wie oben beschrieben, verteilt werden MÜSSEN, werden also als Abwertung der eigenen Person und als Verweigerung von Liebe und Anerkennung durch Lehrer_innen wahrgenommen. Durch diesen enormen psychischen Stress entstehen schnell Selbstbilder, die den Schüler_innen suggerieren, dass sie "eh nur ein 4-er Kandidat" seien. Durch die Tatsache, dass stärkere Schüler_innen dem selben Leistungsdruck ausgesetzt sind, wird der Aufstieg in höhere Notenregionen, die ja per Definition nur im Vergleich zu den Anderen erreicht werden können, erschwert.
Schüler_innen verzweifeln so schnell an der Schule. Sie wird zum Ort der Pein und Schande. Ihre Selbstbilder werden grundsätzlich negativ geprägt, wodurch Leistungsbereitschaft und -fähigkeit signifikant sinken. Minimale Unterschiede in der zeitlichen Entwicklung, die vor allem durch das Elternhaus bedingt sind, werden durch diese psychologischen Effekte immer mehr verstärkt, sodass schlechte Noten über die Zeit zur selbst erfüllenden Prophezeiung werden. Dass dadurch sowohl eine große Menge intellektuellem, als auch menschlichem Potenzials verschenkt wird, sollte einleuchtend sein; vor allem, wenn man bedenkt, dass alle Menschen mit Milliarden von Synapsen in ihrem Gehirn das Leben beginnen, die nur darauf warten, angemessen stimuliert zu werden. Intelligenz ist lediglich der Grad der Verknüpfung von Synapsen, der durch diese Stimulation erreicht wird.
Es gibt also keine "dummen" Kinder, sondern lediglich Kinder, die dumm gemacht werden. Auch diese Verdummung eines großen Teiles der Bevölkerung ist natürlich im Interesse des "Marktes". Dieser möchte keine kritisch denkenden Menschen, sondern Konsument_innen, die sich nicht beschweren, für 8€ die Stunde zu schuften, um sich danach mit den ach so tollen Errungenschaften des Kapitalismus wie "Bubble Tea" und "Shopping-Trips" die Sinnlosigkeit ihres wirtschaftlichen Handelns zu kompensieren. Da Kapitalismuskritik wohl noch einen großen Teil meiner weiteren Schreibarbeit in diesem Blog ausmachen wird, belasse ich es für diesen Post dabei, um nicht in endloses, zielloses Schwafeln auszuarten.
Um diesen Abschnitt zu den psychischen Folgen zu vervollständigen, möchte ich noch klarstellen, dass die Notengebung nicht nur denjenigen schadet, die am unteren Ende der Skala stehen. Auch das Selbstbild der "guten" Schüler_innen ist hochgradig prekär, da jeder Klassen- oder Lehrerwechsel die Bewertungsgrundlage komplett verändern kann. Die psychologischen Folgen eines solchen plötzlichen Leistungsabfalls habe ich selber erlebt, als ich vor ein paar Jahren zu den 15% der 14- bis 16-jährigen gehörte, die akut selbstmordgefährdet waren (Quelle: SEYLE-Studie).
Des Weiteren ist der Konkurrenzgedanke, der durch solch ein Notensystem geschürt wird, sicherlich nicht förderlich für eine Spezies, die sich evolutionär aufgrund ihres ausgeprägten Sozialverhaltens und Kooperation durchgesetzt hat.

"Aber man kann doch nicht einfach die Notengebung abschaffen, dann würde doch niemand mehr lernen wollen." ist ein Einwand, den ich oft zu hören bekomme. Für ältere Menschen, die durch das Schulsystem bereits so geprägt wurden, dass lediglich der Leistungsnachweis zu einer bestimmten Zeit wichtig ist, während die darauf folgende Aufarbeitung eigener Schwächen nicht belohnt, sondern durch Zeitverlust für die Erarbeitung anderer Themen, sogar bestraft wird, mag das stimmen. Es gibt keinerlei Motivation, etwas nach der Klausur verstehen zu wollen, da die Bewertung nicht verändert werden kann.
Im Grunde ist jeder Mensch, der von der Gesellschaft noch nicht komplett vergrault wurde, bereit zu lernen. Der berühmte humanistische Psychologe Maslow hat dieses Bedürfnis sogar zu einem Bestandteil seiner berühmten "Bedürfnis-Pyramide" gemacht und damit den Wert des Lernens als elementares menschliches Bedürfnis herausgestellt. Wer an dieser inhärenten Motivation zum Lernen zweifelt, sollte sich die Zeit nehmen, Kinder, die noch nicht vom Leistungsdruck geknebelt sind, zu beobachten. Sie entdecken ihre Welt spielerisch und stellen eine Fülle von Fragen an Erwachsene. Sie wollen ihre Welt verstehen, ohne dafür unter irgendeinen Druck gesetzt zu werden. Ein großes Problem an unserem Bildungssystem ist, dass es so gut wie keine positiven Anreize zum selbstständigen, entdeckerischen Lernen gibt, sondern die Schüler_innen in eine ständige Abwehrhaltung gegenüber Bestrafung durch schlechte Noten setzt.
Das Hetzen von einer Prüfung zur anderen führt dabei zum sogenannten "Bulemie-Lernen", bei dem das nötige Faktenwissen für die nächste Klausur in das Gedächtnis geradezu eingeprügelt wird, um nach der Klausur als nutzloser Ballast wieder vergessen zu werden.
Eine Schule ohne die ständige Notwendigkeit des Beherrschens eines vorgegebenen Faktenwissens würde viel mehr Platz für eigenständiges Lernen, das jedem Menschen die Chance gibt, die eigenen Fähigkeiten und Interessen zu verfolgen, geben. Durch die Vorstellung der Ergebnisse dieses eigenständigen Lernprozesses in der Gruppe profitieren alle Schüler_innen von einer großen Fülle von neuen Ideen, während der/die Vortragende_r sein Wissen durch Weitergabe festigt und gleichzeitig Kommunikationstraining auf hohem Niveau betreibt.
Da der ständige Konkurrenzdruck in einer Schule ohne Noten wegfällt, wird Kooperation und Sozialverhalten gefördert und Egoismus missbilligt.
Eine solche "Schule ohne Noten" würde aber nicht zwangsläufig bedeuten, dass keine Prüfungen mehr stattfinden. Es bleibt in einer solchen Organisationsform immer noch die Möglichkeit, Lernzielkontrollen schreiben zu lassen. Eine personalisierte Rückmeldung über spezifische Fehlerquellen erweist sich dabei als viel effektiver als eine Bewertung der Leistung als Note mit allen ihren negativen Folgen. Lehrer_innen sollen die Chance bekommen, das zu tun, wofür sie bezahlt werden- den Schüler_innen möglichst viel Wissen zu vermitteln- anstatt sich mit ständiger Selektion beschäftigen zu müssen.

Falsche Lehrmethoden

Der heute immer noch vorherrschende Frontalunterricht ist ineffektiv und für die Schüler_innen wenig motivierend. Das Einprasseln von vielen abstrakten Fakten auf die Schüler_innen wird den Erkenntnissen der Neurowissenschaften und Psychologie nicht gerecht.


Wie ich bereits zuvor beschrieben habe, besitzt jeder Mensch Milliarden von Nervenzellen, die Erfahrungen speichern und verknüpfen. Die Reichhaltigkeit sinnlicher Erfahrungen ist im Lernprozess vor allem für jüngere Kinder von großer Bedeutung, da abstrakte Konzepte immer einer erfahrenen sinnlichen Grundlage bedürfen. Die Abbildung einer Blume in einem Biologiebuch kann die sinnliche Erfahrung der realen Blume, die nicht nur das Sehen, sondern auch das Fühlen und Riechen betrifft, nicht ersetzen.

Obwohl ältere Kinder immer mehr in der Lage sind, abstrakte Konzepte zu entwickeln, ist die Grundlage dafür immer im selbstständigen Entdecken der eigenen Umgebung gelegt. Umso wichtiger ist es, in allen Entwicklungsstufen eigenständiges Arbeiten zu fördern. Das heißt jedoch nicht, dass Kinder einfach allein gelassen werden, sondern benötigt eine individuelle Förderung, die Kinder bei dem selbstständigen Erlangen von Kompetenzen unterstützend unter die Arme greift, anstatt Ergebnisse einfach zu Präsentieren. Dafür braucht es einen besseren Personalschlüssel sowie mehr Investitionen in und Zeit für Experimente, die Theorie und Praxis verknüpfen.

Falsche Inhalte

Heutiger Unterricht setzt zum großen Teil auf die Vermittlung von schnödem Faktenwissen. Diese Fokussierung wird einer Zeit, in der alle Informationen auf Knopfdruck verfügbar sind, nicht mehr gerecht. Viel wichtiger wäre es, sich in der Schule darauf zu konzentrieren, das Lernen zu lernen- also Methoden zur Aneignung, Kategorisierung, und kritischen Bewertung von Informationen. Ich habe zum Beispiel erst im 12. Schuljahr gelernt, wie man mit wissenschaftlicher Literatur umgeht. In einem Schulsystem, in dem viele Schüler_innen schon nach 10 Jahren ins Berufsleben entlassen werden, stellt das ein Armutszeugnis dar.

Des Weiteren sollte schon früher eine stärkere Spezialisierung nach eigenen Wünschen möglich sein. Das könnte man so gestalten, dass statt einem Klassen- ein Modulsystem verwendet wird, in dem jede_r eine Grundausbildung auf jedem Fachgebiet bekommt und sich danach selbstständig entscheiden kann, ob er/sie sich auf ein oder mehrere bestimmte Gebiete spezialisieren möchte, oder weiterhin generalisiert weiter lernt. Das hätte den Vorteil, dass besondere persönliche Stärken schon früh gefördert würden und das Frustpotenzial bei ungeliebten Fächern sinkt, da diese nach dem Erwerben eines gewissen Grundverständnisses einfach abgewählt werden können. Dabei halte ich es für wichtig, die Wahl des Lebensweges so lange wie möglich offen zu halten, indem die Belegung eines Faches von anderen ausgewählten Fächern unabhängig ist. In der Praxis würde ein solches Lernen ähnlich wie das auf Universitäten bereits verwendete Modulsystem, in dem einzelne Module auch aufeinander aufbauen können, aussehen.

Weitere Aspekte

Ich habe mich aus Platzgründen dafür entschieden in diesem Text nicht auf Forderungen wie die inklusive Beschulung (die übrigens durch die Abschaffung der Notengebung erst ermöglicht wird) oder die stärkere Förderung von demokratischer Partizipation von Schüler_innen sowie von Gesamt- und Ganztagsschulen einzugehen, da diese in meiner Partei bereits mehr als ausführlich bearbeitet wurden und es gerade in meinem Landesverband (Niedersachsen) genügend Expert_innen für diese Themen gibt, die sich dazu sicher qualifizierter als ich äußern können. Deswegen habe ich mich in diesem Text vor allem auf kontroverse Themen, die in der Debatte um eine bessere Schullandschaft häufig vergessen werden, konzentriert. Nichtsdestoweniger sind natürlich auch die oben genannten Forderungen unbedingt zu unterstützen, um mehr Bildungsgerechtigkeit herzustellen.


Ich hoffe, dass euch mein spontaner Beitrag zu der Debatte gefallen und intellektuell befruchtet hat, und freue mich auf den weiteren Fortgang dieser Debatte.

0 Kommentare:

Kommentar veröffentlichen